Institut für Kunstgeschichte
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I. de-signum. Eine Einführung (Ganzer Text)

Aus der Linie wird laut Plinius die Malerei geboren – in dem Moment, als die Tochter des Butades aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichts mit Linien umzog (Plinius, Nat. Hist. XXXV). Durch das Spiel einer Linie auf dem Papier wird nicht nur eine Form definiert, sondern die Erinnerung einer Bewegung hinterlassen und die Einzigartigkeit des Zeichners charakterisiert.

In der grafischen Sammlung des Instituts ist nicht nur die veränderte Variante der Plinius-Anekdote zu finden, sondern weitere Werke, die theoretische Schriften der Zeit wiedergeben. Im einführenden Kapitel werden nicht nur Aspekte des disegno vorgestellt, sondern Themen von der Künstlerrolle als Zeichner bis zum Umgang mit der Linie im 20. Jahrhundert behandelt.

Bereits in der mittelalterlichen Kunstlehre galt die Zeichnung als eine Grundlage der Kunst. Sie war aber nur Mittel der Einübung und des Erlernens, jedoch kein autonom anerkanntes Kunstwerk. Um 1390 erklärte Cennino Cennini in Libro dell'Arte die Zeichnung zur handwerklichen Grundlage. In der Einführung zu der zweiten Ausgabe von Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani (1568) erhob Giorgio Vasari das Prinzip des disegno über die einfache Zeichnung und deutete es als Vater der drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei. Mit Federico Zuccari setzte die Aufwertung der Zeichnungin der Kunsttheorie ein. In L’idea di pittori, scultori e architetti (1607) verglich er disegno mit dem göttlichen Schöpfungsakt.

Trotzt der Wichtigkeit des disegno wurde es jedoch nicht von allen Malerschulen als Grundlage aufgenommen, was zu zahlreichen Diskussionen über die Vorrangigkeit von Malerei oder disegno führte. Über die Jahrhunderte hinweg stieg das Selbstbewusstsein des Grafikers und die Linie erlangte als Darstellungselement eine gewisse Autonomie. Die Grafik diente immer weniger nur der Nachahmung, sie entwickelte sich zum interpretierenden und unabhängigen Medium.

Anna Dalle Mule. Nino Nanobashvili, Ester Sposat