Institut für Kunstgeschichte
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

III. Tracing lines. Linie als Gestus und Künstlerhandschrift

Nach Jan Lievens, Künstler nicht bekannt

Nach Jan Lievens, Künstler nicht bekannt

Künstler: nicht bekannt
Vorlage: Jan Lievens, Studie eines älteren, bärtigen Mannes, circa 1635 – 1643,  Zeichnung mit Pinsel in rotbraunem, schwarzen und weißen Öl und Tinte auf gelben Papier, SMPK Kupferstichkabinett Berlin
Titel: Studie eines älteren Mannes mit Bart im Brustbild
Datierung: Ende 17.Jahrhundert
Technik: Radierung
Maße: Platte 135 x 103 mm, Papier 133 x 100 mm
Beischrift: Oben rechts: Page 332, unten links: Lievent fecit

 

Vorbild:

Jan Lievens, Studie eines älteren, bärtigen Mannes, circa 1635 – 1643,  Zeichnung mit Pinsel in rotbraunem, schwarzen und weißen Öl und Tinte auf gelben Papier, SMPK Kupferstichkabinett Berlin

Die kleine Bildtafel zeigt die Studie eines alten, bärtigen Mannes im Brustbild. Sein Kopf ist leicht nach unten geneigt und sein Blick scheint einen Gegenstand außerhalb des Bildraumes zu fixieren. Das Haar des Alten ist leicht gewellt, eine Locke fällt ihm in die mit Falten überzogene Stirn, die durch wenige Striche formuliert wird. Die Striche sind in einem brüchigen Gestus in die Kupferplatte eingegraben, gerade so, als ob der Künstler dem Alter des Dargestellten entspräche und dementsprechend zittrig seine Hand wäre. Mit großer Sorgfalt wird hier das Alter studiert. Die Augen umgeben tiefe Tränensäcke, die Wangen sind leicht eingefallen – eine Kartographie des Alters.

Im Gegensatz zu den feinen Linien, mit denen die Physiognomie des alten Mannes beschrieben wird, steht die Ausarbeitung seines Gewandes, das eine beinahe plastische Qualität bekommt. Tiefe, senkrechte Gräben zeichnen den Rock des Dargestellten aus, der Akt des Radierens scheint unmittelbar und präsent.

Der Studie beigefügt ist die kursiv gehaltene Unterschrift „Lievent fecit“. Die Vorlage für den Druck lieferte in der Tat eine Zeichnung Jan Lievens (1607 - 1674), die sich heute im Kupferstichkabinett der Staatlichen Sammlungen zu Berlin befindet (Nagler 1924, S. 468ff.). Die Zeichnung wird zum ersten Mal in der jüngsten Monographie „Jan Lievens. A Dutch Master Rediscovered“ aufgeführt (Wheelock 2008, S. 77). Der Titel verweist bereits darauf, dass der Künstler für lange Zeit in Vergessenheit geriet. In der kunsthistorischen Forschung wurde im letzten Jahrhundert diskutiert, ob Jan Lievens sein Leben lang im Schatten Rembrandts stand (siehe gleichnamige Ausstellung 1979 im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig). Zusammen wuchsen die beiden Künstler in Leyden auf und erhielten ihre Ausbildung bei Peter Lastmann. Möglicherweise teilten sie sich ebenfalls ein Atelier. Doch während in jungen Jahren Lievens als der begabtere Künstler galt, wurde er schließlich in den 1630er Jahren von Rembrandt künstlerisch „überholt“. (Klessmann 1979, S. 11ff.)

Die Studie des alten Mannes zeigt, dass diese Meinung mindestens von Sammlern um 1900 nicht geteilt wurde. Vermutlich handelt es sich bei dem kleinen Blatt aus dem kunsthistorischen Institut in München um die Darstellung aus einem Sammelband für den Kunstliebhaber. Signatur und Seitenangabe sind zusammen mit der Darstellung auf einer Platte angelegt, sodass die Radierung möglicherweise in Zusammenhang mit dem Band entstand.

Jan Lievens, Alter Mann mit Bart, Mainz Landesmuseum, Quelle: prometheusJan Lievens interessierte sich Zeit seines Lebens für die menschliche Physiognomie. Meist im Brustbild stellte er mit Vorliebe Männer in allen Lebensaltern, aus dem Orient und aus Geschichte und Religion dar. Zudem porträtierte er zahlreiche Zeitgenossen, wie seinen Künstlerkollegen Adriaen Brouwer.  Dabei experimentierte er mit verschiedenen Medien - der Zeichnung, dem Holzschnitt sowie der Radierung. Keineswegs war ihm eine Leinwand zu schade, die Studie eines alten Mannes ebenfalls in Öl auszuführen.

Sicher ist, dass es sich bei dem vorliegenden Blatt nicht um den Nachdruck einer Radierung Jan Lievens selbst handeln kann. Hier fehlt nicht nur die kennzeichnende Signatur „I L“ oder „I. Lievens fecit“ (Schatborn 1988, S.16f., Sumowski 1983). Jan Lievens entschied sich in keiner seiner Studien für die netzartige Gestaltung des Hintergrundes. Ebenso stellte er die Gewänder der Porträtierten mit nur wenigen Strichen dar.

Rembrandt, Anbetung der Hirten, ca. 1652, Radierung, 148 x 198 cm, Quelle: Berlanda/Visconsi 1998Die Linien des unbekannten Künstlers zeichnet zudem eine Eigenqualität aus. Der Akt des Radierens wird besonders ausgestellt. Dabei scheint sich der Künstler mit dem Druckwerk des Lieventischen Künstlerkollegen Rembrandt auseinander gesetzt zu haben. Die tiefen Furchen, die in das Gewand eingelassen wurden, finden sich wieder in der „Anbetung der Hirten“ Rembrandts aus dem Jahre 1652 (Berlanda/Visconsi 1998, S. 61).

Obwohl der Akt des Radierens sichtbar bleibt und die Linien der Physiognomie zeichenhaft auf den Dargestellten verweisen, verbleibt die Frage, inwiefern eine eigene Herangehensweise an das Bildthema erfolgt ist oder der Versuch unternommen wurde, sich in hohem Maße dem Gegenstand anzunähern und mit Max Dvorak den „Geist“ der Person herauszukristallisieren. Bei der Betrachtung der brüchigen, zittrigen Linien, die das Gesicht des alten Mannes kennzeichnen, drängt sich der Gedanke auf, dass sich der Künstler in besonderer Weise in sein Objekt eingefühlt haben könnte, gerade in dem Moment, in dem die im Fokus der Betrachtung stehende Partie, das Gesicht, auszuführen war. Der Künstler wurde in diesem Fall möglicherweise eins mit dem darzustellenden Objekt, sodass sich seine Hand in die Hand des alten Mannes „verwandelte“ und nur brüchig die Faltenlinien auszuführen vermochte. Eine Möglichkeit der Interpretation dieser Linien wäre in diesem Fall, dass nicht nur der Geist und die Hand des Künstlers in einer Einheit zueinander stünden, sondern gerade im Prozess der Radierung zusammen gehen mit dem darzustellenden Objekt.

Susanne Thürigen

Literatur:

  • Berlanda, Orietta/ Visconti, Chiara (Hgg.): Rembrandt. La luce incisa, Mailand 1998.
  • Dickey, Stephanie S.: Jan Lievens and Printmaking, in: Wheelock, Arthur K. (Hg.): Jan Lievens. A Dutch Master Rediscovered, New Haven 2008, S. 54-67.
  • Klessmann, Rüdiger u.a. (Hg.): Jan Lievens. Ein Maler im Schatten Rembrandts, Braunschweig 1979.
  • Nagler, Georg Kasper (Hg.): Neues allgemeines Künstler-Lexikon oder Nachrichten von dem Leben und den Werken der Maler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Lithographen, Formschneider, Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter etc., 25 Bde., Leipzig 1924 (Nachdruck der 1. Aufl. 1835-1852), Bd. 8.
  • Rubinstein, Gregory: The Drawings of Jan Lievens, in: Wheelock, Arthur K. (Hg.): Jan Lievens. A Dutch Master Rediscovered, New Haven 2008, S. 68-81.
  • Schatborn, Peter (Hg.): Jan Lievens 1607-1674. Prints and Drawings, Amsterdam 1988.
  • Sumowski, Werner: Drawings of the Rembrandt School, Band 7, New York 1983.
  • Wheelock, Arthur K. (Hg.): Jan Lievens. A Dutch Master Rediscovered, New Haven 2008.

Standort/Bildrecht: Institut für Kunstgeschichte der LMU, München

Abb.: Jan Lievens, Alter Mann mit Bart, Mainz Landesmuseum, Quelle: prometheus

Abb.: Rembrandt, Anbetung der Hirten, ca. 1652, Radierung, 148 x 198 cm, Quelle: Berlanda/Visconsi 1998

Abb.: Jan Lievens, Studie eines älteren, bärtigen Mannes, circa 1635 – 1643,  Zeichnung mit Pinsel in rotbraunem, schwarzen und weißen Öl und Tinte auf gelben Papier, SMPK Kupferstichkabinett Berlin