Institut für Kunstgeschichte
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VI. Die Linie: Eine Frage der Technik

Mellan

Mellan

Künstler: Claude Mellan
Titel: Der heilige Alexius
Datierung: 1649
Technik: Kupferstich
Maße: (Blatt und Platte) 435 x 315 mm
Beischrift: unten Mitte: S. Alexius Romanus/ unten klein: 1649

 

Was die Verwendung der Linie angeht, kommt Claude Mellan (1598-1688) unter den französischen Graveuren des 17. Jahrhunderts eine herausragende Rolle zu. Als Hofkünstler Ludwigs XIV. entwickelt und perfektioniert Mellan eine spezielle, verfeinerte Technik des Kupferstichs: Er stellt Schattierungen nicht mehr, wie üblich, durch Schraffur dar – sondern durch an- oder abschwellende parallele Linien. Die Richtung der Linie und ihre Breite sind Mellans einziges Ausdrucksmittel. Der vorliegende Druck aus dem Jahr 1649 ist exemplarisch für diese Technik.

Der Heilige Alexius sitzt schlafend am Fuß einer Treppe. Zwei Figuren am rechten Bildrand und ein Kind am Treppenabsatz beobachten ihn. Im rechten Hintergrund fällt der Blick durch einen hohen Torbogen ins Freie. Beleuchtet wird die Szene durch ein rundes Fenster am oberen Bildrand, aus dem Lichtstrahlen auf Treppe und den schlafenden Heiligen fallen. Das Bild besitzt durch Zentralperspektive und Hell-Dunkel-Abstufung eine starke Räumlichkeit, klar gestaffelt in Vorder- Mittel- und Hintergrund. Dabei blendet Mellan die Technik der Schraffur komplett aus – keine Linie kreuzt sich mit einer anderen.

Oberflächenstrukturen und Volumina drückt er durch Linienführung und –breite aus. So stellt er die Wand unterhalb des Oberlichts durch durchgängige, waagrechte, streng parallele Linien dar. Verlangen Mauerfugen oder von oben einfallende Lichtstrahlen nach einer Änderung der Wandstruktur, lässt er die Linien anschwellen. Beleuchtete Partien, etwa die Trittflächen der Treppe, hellt er durch zartere und weiter auseinander liegende Linien oder freie Stellen auf. Besonders auffallend ist die Behandlung der Oberflächen bei den organischen Bildelementen, etwa Gewändern oder Gesichtern: Hier folgt die Linienführung minutiös der jeweiligen Oberfläche, folgt einzelnen Haarsträhnen, windet sich um Stofffalten und erreicht so – abermals ohne Schraffur – eine erstaunliche Plastizität.

Mellans Linien-Konzept, der radikale Verzicht auf die Schraffur, stellt für Graveure eine enorme technische Herausforderung dar. Wohl vor allem deshalb findet diese Spezialtechnik in der Geschichte der Druckgraphik kaum nennenswerte Nachfolger.

Jan Stremmel

 

Standort/Bildrecht: Institut für Kunstgeschichte der LMU, München