Institut für Kunstgeschichte
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Ruth Kraemer, geborene Schweisheimer

geb. 27.08.1908 in München,
gest. 27.09.2005 in New York, USA

Ruth_Kraemer„One day, a classmate from the Gymnasium invited me to attend a lecture with her on Egyptian art. That lecture ’sealed my fate’. From that point on, I embarked enthusiastically on a career as an art historian“ [alle Zitate – wenn nicht anders angegeben – aus: Ruth Kraemer, The Story of My Life, USA 27.08.1998]. In ihrer Autobiografie, die Ruth Kraemer zu ihrem 90. Geburtstag im Jahre 1998 für ihre Familienangehörigen verfasste, erläutert die Kunsthistorikerin, wie sie ihre Leidenschaft für das Fach Kunstgeschichte entdeckte. Durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten erlitten ihre Karriere als Kunsthistorikerin sowie ihr privates Leben jedoch einen tiefen Einschnitt. Wegen ihrer jüdischen Abstammung war sie unmittelbar von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik betroffen und wurde in die Emigration gezwungen. Sie fand zunächst in den Vereinigten Staaten von Amerika Aufnahme, später dann eine neue Heimat. Letztlich gelang es ihr – trotz dieser erschwerten Bedingungen – in ihrem Fachgebiet Fuß zu fassen. Ruth Kraemer galt in der Morgan Library in New York als Spezialistin für die Grafik des 16./17. Jahrhunderts.

Ruth Kraemer wurde am 27. August 1908 als Tochter von Frieda Schoenthal und Julius Schweisheimer in München geboren. Sie besuchte das Gymnasium und schrieb sich 1927 nach ihrem Abitur in verschiedenen Sprachkursen an der Münchner Universität ein. Ruth wollte zunächst Sprachlehrerin werden. Nachdem sie jedoch eine Kommilitonin zu einer Vorlesung über ägyptische Kunst eingeladen hatte, begeisterte sie sich für die Kunstgeschichte. Sie studierte sodann Archäologie, Romanische Philologie und Kunstgeschichte in München sowie in Berlin und Paris. Studienreisen führten sie oft nach Italien. 1932 promovierte Ruth Kraemer bei Wilhelm Pinder in München mit einer Arbeit über den Bildhauer Johann Georg Dirr.

Die Drucklegungsfrist ihrer Dissertation musste sie mehrmals wegen finanzieller Schwierigkeiten verlängern, auch weil ihr die Redaktion der Freiburger Museums-Zeitschrift Die Oberrheinische Kunst die einst zugesagte Aufnahme ihrer Dissertation wegen des Ausfalls der öffentlichen Gelder für die Zeitschrift  1934 absagen musste.

Kurz nach ihrer Promotion trat Ruth Kraemer an der Staatlichen Kunstbibliothek in Berlin eine Beschäftigung als Volontärin an. 1933 wurde sie jedoch auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vorzeitig entlassen. "Everything changed, of course, when Hitler became German Chancellor on January 30. 1933. (…) Since our future looked so bleak, we, the younger generation, knew we had to leave Germany as soon as possible".

Schon früh setzte sich Ruth Kraemer mit dem Gedanken einer Emigration sowie beruflichen Alternativen auseinander. Um sich ein zweites Standbein für ihre Zukunft im Ausland aufzubauen, erlernte sie unter Anleitung des renommierten Fotografen Siegfried Enkelmann im Atelier Robertson in Berlin das Fotografieren. Sie nahm weiterhin Kontakt zu ihren Verwandten in Amerika auf und bat diese, sie bei ihrem Vorhaben zu unterstützen.

"In order to prepare myself for the possibility that I might not be able to find a job in my profession, I signed up for a course in photography (…)". In Berlin lernte Ruth auch ihren späteren Ehemann, den Jurastudenten Helmut Kraemer, kennen. 1934 verließ sie das Atelier, um sich selbstständig zu machen und eröffnete ein Fotostudio für Porträt-, Werbe- und Architekturfotografie in der Martiusstrasse 8 in München.

Im September 1936 emigrierte Ruth Kraemer schließlich über Le Havre nach New York, wo sie am 11. Oktober 1936 ankam. "(…) I sailed on the S.S. Britannic of the Cunard-White Star Line for a 10-day voyage to a new country and a new life. I shall never forget my first glimpse of the Statue of Liberty when our ship entered the harbor. It was dawn and everyone was on deck. I was overcome with emotion, and so were most of the passengers."

Zunächst wohnte sie in New York bei ihren Verwandten Charlotte and Morris Weil. Wie viele emigrierte Kunsthistoriker beherrschte auch Ruth Kraemer das Englische nicht so gut, dass sie es ohne Weiteres für fachspezifische Zwecke hätte nutzen können. Doch ihre Befähigung in den romanischen Sprachen erleichterte ihr die Aneignung erheblich. Schließlich erfuhr Ruth Kraemer über eine alte Studienfreundin, Helen Franck, die sie bei einem Aufenthalt in Florenz kennen gelernt hatte, von einer Stelle in der Pierpont Morgan Library. Die Anstellung ermöglichte ihr das lang ersehnte eigene Appartement in New York. Ihre finanzielle Situation blieb jedoch lange Zeit problematisch. 1937 erreichte auch Helmut Kraemer die USA. "We were happily reunited and met almost daily to exchange experiences." Die beiden heirateten schließlich zwei Jahre später. Ruth Kraemer verließ die Morgan Library, um ihre gemeinsamen Kinder Erika und Kenneth groß zu ziehen. 1940 wurde ihr schließlich die amerikanische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Erst als ihr Mann sein amerikanisches Jura-Examen absolvierte, verbesserte sich die finanzielle Situation der Familie drastisch.

Nachdem ihre Kinder alt genug waren, nahm Ruth Kraemer ihre Arbeit wieder auf. Sie arbeitete in der Pierpont Morgan Library in New York in verschiedenen Positionen, u. a. im Department of Prints and Drawings. In diesem Rahmen realisierte sie auch die Publikation "Drawings by Benjamin West and his son Raphael Lamar West" – den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung von 1975 in der Morgan Library. Dabei war es nicht zuletzt Ruth Kraemers Errungenschaft, Klarheit bei der Frage nach der Zuschreibung von Zeichnungen aus dem Werk von Benjamin West und seinen Söhnen Raphael Lamar und Benjamin West, Jr., zu schaffen. "(…) the catalogue (…) is the most substantial publication devoted to the artist since John Galt's Life appeared in 1820. (…) Mrs. Kraemer['s] catalogue is a major work in its own right, which will be indispensable for all future study of the artist" [Allen Stanley, Rezension von: Ruth S. Kraemer, Drawings by Benjamin West and his son Raphael Lamar West, New York 1975].

1983 erhielt die Pierpont Morgan Library aus dem Nachlass von Clara S. Peck das so genannte "Drake Manuscript" -  L'Histoire Naturelle des Indes, welches Ruth Kraemer sodann für eine Publikation der Morgan Library übersetzte. Weiterhin transkribierte sie das handschriftliche Manuskript "Le Petit Prince" von Antoine de Saint Exupery. Sie verfasste zahlreiche Artikel für die Zeitschrift Master Drawings, u. a. über Hubert-François Gravelot und Charles-Nicolas Cochin. Ruth Kraemer forschte auch zu den Illustrationen des Werkes "Quinti Horatii Flacci Emblemata" (Antwerpen 1607) von Otto van Veen. Neben ihren fachlichen Qualifikationen verfügte sie über ausgezeichnete Kenntnisse der romanischen Sprachen und ägyptischer Hieroglyphen. Die Kunsthistorikerin Ruth Kraemer verstarb am 27.09.2005 in New York. "A keen eye, extraordinary patience, and a facility with numerous languages and for deciphering arcane iconography", so beschreibt Charles E. Pierce, Jr. – Direktor der Pierpont Morgan Library die besonderen Stärken der Wissenschaftlerin [Charles E. Pierce, Jr.: Letter to the reader, in: Master Drawings, 40.2002, 2, S. 182, Anlass für das Porträt war der Renteneintritt von Ruth Kraemer].

Ruth Kraemer verlor durch die Verfolgung der Nationalsozialisten nicht nur ihre deutsche Heimat, sondern auch ihren Vater Julius Schweisheimer, der mit Bruder und Schwester in Theresienstadt ermordet wurde. Auch von der deutschen Sprache wandte sie sich ab. "(…) [She] only spoke German to her husband when she didn't want her children to understand what she was saying. She did not teach German to her children. She travelled all over the world, but she never visited Germany again. In fact, she was very outspoken about her belief that no one in the family who was forced to leave Germany should ever return." [Erika Kraemer Sánchez, 16.11.2010]

Ausstellungen:

  • Unbelichtet. Münchner Fotografen im Exil, Jüdisches Museum München 2010.

Veröffentlichungen:

  • mit Johann Georg Dir: Der Bodenseeplastiker des Louis XVI., München 1935 (Druck der Dissertation von 1932)
  • Drawings by Benjamin West and his son Raphael Lamar West, New York 1975
  • Rezension von: John Dillenberger, Benjamin West. The context of his life's work, with particular attention to paintings with religious subject matter, San Antonio 1977, in: The Art Bulletin, 60.1978, S. 564-565
  • Drawings by Gravelot in the Morgan Library. A checklist, in: Master Drawings, 20.1982, S. 3-21
  • Pietro da Cortona and Cornelis Bloemaert: An unpublished document, in: The Burlington magazine, 131.1989, S. 414-416
  • Drawings by Gravelot for Alessandro Tassoni's mock-heroic poem "La Secchia Rapita", in: Master Drawings, 28.1990, 3, S. 338-343
  • Drawings by Charles-Nicolas Cochin for Monsieur's "Gerusalemme Liberata", in: Master Drawings, 31.1993, 2, S. 146-162

Mitarbeit an verschiedenen Publikationen der Pierpont Morgan Library New York:

  • Felice Stampfle (Hg.): Netherlandish drawings of the fifteenth and sixteenth centuries and flemish drawings of the seventeenth and eighteenth centuries in the Pierpont Morgan, Princeton 1991
  • Cara D. Denison, Myra Nan Rosenfeld und Stephanie Wiles (Hg.): Exploring Rome. Piranesi and his contemporaries, Cambridge 1993
  • Cara Dufour Denison (Hg.): Fantasy and reality. Drawings from the Sunny Crawford von Bülow Collection, New York 1995

Übersetzungen von Ruth Kraemer:

  • Patrick O'Brian: Histoire Naturelle Des Indes. The Drake Manuscript in the Pierpont Morgan Library, New York 1996.

Quellen / Literatur:

  • Erika Kraemer Sánchez
  • Stadtarchiv München, Einwohnermeldekarte
  • Universitätsarchiv München, Karteikarte der Studentenkartei, Promotionsakte
  • Database: New York Passenger Lists 1820-1957
  • Selected U.S. Naturalization Record Index 1906-1966 (http://www.ancestry.com)
  • Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 10. Jg., Nr. 12 (15.06.1934 – Annoncen)
  • BayHStA, Bayerisches Landesentschädigungsamt Entschädigungssache Ruth Kraemer, geborene Schweisheimer, geb. 27.08.1908, Az.: BEG 19062
  • Nachruf auf Ruth Kraemer, in: New York Times (16.10.2005)
  • Charles E. Pierce, Jr.: Letter to the reader, in: Master Drawings 40, No. 2 (Summer 2002), 182

Recherche und Text: Lisa Kolb