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I. de-signum. Eine Einführung

N. Tardieu

N. Tardieu

Künstler: Zeichner: L. Chéron (1676-1749), Stichschreiber: N. Tardieu (1674-1749), Verleger: T. Bowles (1652-1721)
Titel: Titelblatt mit Portrait Raffaels
Datierung: Anfang des 18. Jahrhunderts
Technik: Kupferstich und Radierung
Maße: B: 425 x 342; P: 354x 428
Beischrift:
VII Tabulæ/ RAFFAELIS URBIN:/ Quas Hortatu Pauli Rubenij Eq: ingenti sumpiu/
emit Rex CAROLUS. IS. Et quibus conservandis / Pinacothecam Hamptonensem fieri jufserunt /GUGLIELMUS et MARIA Rex et Regina./ The seven CARTONS of RAFFAEL URBIN / that King CHARLES y In. bought by the Advice/ of Paul Ruben & ruhichaire preserved in y Gallery /at Hampton Court erected for that Purpose /by the Order of King WILLIAM & Q. MARY/
LONDON/ Sold by Tho: Bowles in St. Pauls’-Church-yard./ A Paris chez F. Poilly Graveur rue Saint Jacques a L'Image Saint Benoist. /L. Cheron In. Et Del./ n Tardieu sculp.

 

Bei diesem Stich handelt es sich um das Titelblatt eines Kataloges der Kartons der Wandteppiche der Sixtinischen Kapelle, die Raffael für Papst Leone X 1515 schuf und nach denen in der Werkstatt Peter van Aelsts in Brüssel die Teppiche gefertigt wurden. Sieben der Kartons fanden ihren Weg über Genua und durch die Vermittlung von Peter Paul Rubens in die Sammlung der englischen Krone. Ab 1699 wurden sie in Hampton Court in einer eigenen, von Christopher Wren speziell entworfenen Galerie ausgestellt. Seit 1865 befinden sie sich im Victoria und Albert Museum.

Um das Porträt von Raffael, auf das ein liegender Putto mit seinem Finger zeigt, sind locker die Allegorie der Malerei, Skulptur und Architektur gruppiert. Auf eine schwebende Wolke im Hintergrund stützt sich der alte geflügelte Kronos mit seinen Beinen auf und zieht einen Vorhand beiseite.

TorsoDer programmatische Gehalt des Titelblatts soll hier im Folgenden entschlüsselt werden, bei dem, wie sich zeigen wird, Raffael als Verkörperung der Zeichenkunst verstanden wird. Die Allegorie der Skulptur stützt sich auf eine Büste, die dem Torso del Belvedere nachgebildet ist. Als Personifikation der Bildhauerei wurde der Torso erstmals 1524 auf dem Familienbild des Bernardino Licino verwendet. Es sind zwei Zeichnungen nach dem Torso von Raffael erhalten, die heute im Ashmolean Museum verwahrt werden. Auch im Wandbild der Triumph der Galatea verwendete Raffael dieses Vorbild für die weibliche Hauptfigur, wie Christof Thoenes gezeigt hat (Thoenes 1986). Es ist jedoch fraglich, warum hier die Allegorie der Skulptur dargestellt wurde, obwohl keine bildhauerischen Werke von Raffael überliefert sind. Womöglich wird hier die Skulptur als abhängig von der Zeichenkunst verstanden, was auch die erhaltenen Blätter Raffaels nach dem Torso nahelegen. In seinem berühmten Brief an Baldassare Castiglione erklärt Raffael, dass seine Kunst auf einem idealen geistigen Entwurf, der Idee, beruhe. Er schrieb: «Io mi servo di certa idea, che mi viene nella mente» (Ich bediene mich einer gewissen Idee, die mir in den Sinn kommt). (Thoenes 1986, S. 144). Diese Betonung der Idee und ihrer Äußerung in der Zeichnung könnte letztlich bedeuten, dass für Raffael der gewählte Werkstoff für die Verkörperung des künstlerischen Konzepte von untergeordneter Bedeutung war, und dass die weitere künstlerische Ausgestaltung, besonders in Fall der Skulptur, an einen Spezialisten delegiert werden konnte. Dies scheint zumindest die Auffassung des 18. Jahrhunderts gewesen zu sein, ob das tatsächlich auf Raffael und etwa auf seine Zusammenarbeit mit Lorenzetto zutrifft, wäre eine andere Frage.

TriumphIn Anbetracht der Bedeutung, die Raffael dem Disegno zuschreibt, könnte man möglicherweise auch in der weiblichen Figur, die hinter dem Portrait von Raffael steht, und die als eine Allegorie der Architektur bezeichnet wurde, die Zeichenkunst erkennen. In seinem, etwa dreißig Jahre nach Raffaels Tod veröffentlichen „Dialog über die Malerei“ gibt der Kunstkritiker Ludovico Dolce eine einflussreiche Charakteristik von Raffaels Stil. Raffael habe immer das Dekorum gewahrt, also ein Darstellungsmittel so gebraucht, wie es dem jeweiligen Darstellungsgegenstand angemessen war. Dolce überträgt Ideale des höfischen Lebens auf die Kunst, wie sie Castiglione in seinem Hofmann besprochen hatte. Er betont auch, dass Raffaels Figuren dessen eigener schöner Gestalt, ebenso wie seinem sittsamen und feinen Wesen entsprochen hätten. Die topische Wendung war verbreitet, dass ein Maler stets sich selbst male, die eigene Veranlagung in den Werken zum Ausdruck bringe. Die Grazie wurde so zum Kennzeichen von Raffaels Stil. So gesehen ist die vermeintliche Allegorie der Architektur wohl eher als graziöse Allegorie des Disegno zu verstehen, als eine Art Verkörperung der grazia.

AllianzDieser Erklärungsversuch kann auch in dem Portrait von Raffael eine Bestätigung finden. Das Portrait geht auf das Bildnis eines Jünglings zurück, der lange Zeit für ein Selbstbildnis Raffael gehalten wurde. Als solches publizierte ihn auch Anthonys van Dyck in seiner Iconografia. Das Portrait erhielt durch den Stich von Paulus Pontius große Verbreitung. Im Jahr 1777 wurde das vermeintliche Portrait Raffaels von Nicolas Guibal im Zusammenhang einer Komposition mit einer Allegorie der Zeichnung, Le Dessin, verwendet. Mit gleicher, inhaltlicher Konnotation findet sich dieses Portrait auch in einem Gemälde von Charles Natoire von 1750 wieder. Diesmal wird Raffael aber als Verkörperung des Ideals von Zeichnung und Entwurf, dem Protagonisten des Malerischen, Tizian, in der Allianz von Malerei und Zeichnung gegenübergestellt. Angesichts der durchgängigen Verwendung dieses Portraits im Zusammenhang einer allegorischen Darstellung des Disegno in der Akademietradition des 18. Jahrhunderts kann auch unser Titelblatt als Verkörperung des Ideals von Zeichnung und Entwurf verstanden werden, für das die Kartons in idealer Weise einstehen.

Zum Abschluss sei noch vermerkt, wie die weibliche Darstellung des Disegno mit ihrem rechten Finger auf die Transfiguration zeigt. Dieses Gemälde, das auch als Testament des Künstlers betrachtet wurde, besaß von Anfang an einen außerordentlichen Ruf. In Raffaels erster Biografie, die von seinem Zeitgenosse Paolo Giovio verfasst wurde, wird die Transfiguration als das wichtigste Werk des Meisters bezeichnet. Kunstkritiker des 17. Jahrhunderts stimmten darin überein, dass dieses Werk exemplarisch für Raffaels Kunst einstehen konnte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts betrachtete es François Raguente nicht nur als das vollendetest Werk des Meisters, sondern auch, als den Triumph der Malerei. Es ist also durchaus möglich, dass die Abbildung der Transfiguration in diesem Zusammenhang nicht zufällig ist. Sie verweist ebenso auf Raffael als den größten Maler seiner Zeit, wie sie auch die Unsterblichkeit der Maniera des Urbinaten bezeugt, die vom Zeitgott Chronos enthüllt wird und sich in der Druckgraphik weiterzeugt. Gerade die graphische Wiedergabe seiner Werke begründete den Ruhm des Künstlers als Ideal klassischer Vollkommenheit über die Jahrhunderte hinweg.

Anna Dalle Mule

Literatur:

  • Shearman, John K. G.: Raffael's cartoons in the collection of Her Majesty the Queen and the tapestries for the Sistine Chapel, London 1972.
  • Schwinn, Christa: Die Bedeutung des Torso vom Belvedere für Theorie und Praxis der bildenden Kunst vom 16. Jahrhundert bis Winckelmann, Bern 1973.
  • Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980.
  • Oberhuber, Konrad: Raffaels Transfiguration, Stil und Bedeutung, Stuttgart 1982.
  • Raphaël et l'art français, Paris 1983.
  • Drawings by Raffael, London 1983.
  • Raffaello in Vaticano, Milano 1984.
  • Thoenes, Christof: Galatea: tentativi di avvicinamento, in: Raffaello a Roma, Roma 1986, S. 59-73.
  • Wałek, Janusz: The Czartoryski Portrait of a Youth by Raffael, in:  Artibus et Historiae 12 (1991), S. 201-224.
  • Fermor, Sharon, The Raffael tapestry cartoons, London 1996
  • Raffael und die Folgen, Ostfildern-Ruit, 2001.

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