Institut für Kunstgeschichte
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

IV. Die Wahrheit in der Linie (Ganzer Text)

Neue Errungenschaften in der bildenden Kunst einer großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ohne dass die Betrachter eine lange Reise zu den Originalen auf sich nehmen mussten – dies war die Intention hinter der Schaffung von Druckgrafiken, die Bildwerke reproduzierten. Mit der Anfang des 16. Jahrhunderts in Rom von Marc Antonio Raimondi gegründeten Stecherschule zur Reproduktion von Werken Raffaels verbreitete sich die Technik des italienischen Reproduktionsstiches auch nördlich der Alpen.

Zunächst als bloßes Handwerk der Kopie und Nachahmung angesehen, erlebte der Reproduktionsstich mit Roger de Piles eine Aufwertung. In seinen Ausführungen würdigt er die Kunst der Kupferstecher, ein farbiges Gemälde in Schwarz-Weiß zu übersetzen. Mit der Reproduktion gehe auch eine Reduktion einher. Durch diese Vereinfachung der Mittel folge zwangsläufig eine Interpretation und somit eine Eigenleistung des Künstlers.

Aufgrund der Deutung des Abgebildeten durch den Stecher kann man nicht von einer exakten, „wahrheitsgetreuen“ Wiedergabe des Gemäldes sprechen. Doch auch schon zu den Anfängen der Reproduktionsgrafik galt nicht der heutige Maßstab von Werktreue, sondern es ging um eine grobe Wiedergabe. Um die großen Meisterwerke in Farbe, Pinselstrich und Thema wahrheitsgetreu zu kopieren, musste auch der Stecher ein großer Könner sein.

Neben der Reproduktion von Kunstwerken diente der Kupferstich zur Illustration von Tier- und Pflanzenbüchern. Eine mimetische Wiedergabe des Vorbildes war nicht immer die Maxime. Die Kupferstecher hatten sich häufig den Vorstellungen der Naturforscher unterzuordnen, die im 16. und 17. Jahrhundert vor allem Ausnahmephänomene und Anomalien in der Natur aufzeichnungswert gefunden hatten. Mit der Aufklärung verbreitete sich die Praxis der „Naturwahrheit“, bei der eine Wiedergabe eines Prototyps, eines perfekten und somit unrealistischen Objektes, angestrebt wurde.

Diese Wahrheitssuche in der Darstellung wurde erst mit der Einführung der Fotografie geklärt, die das Element des persönlichen Einflusses auf ein Minimum reduziert. Diese Technik löste die Grafik als Medium der Reproduktion ab.

Sarah Schappert und Johanna Wolff

Literatur:

Daston, Lorraine und Peter Galison: Objektivität, Frankfurt 2007 (engl. New York 2007).