Institut für Kunstgeschichte
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III. Tracing lines. Linie als Gestus und Künstlerhandschrift

Pietro Testa

Pietro Testa

Künstler: Pietro Testa
Titel: Almosen spendender Heiliger
Datierung: ca. 1630-50
Technik: Radierung
Maße: 257 x 315 mm
Beischrift:
Linke untere Ecke: Pietro Testa delineavit
unterer Rand, mittig: Illustrissimo Domino Equiti Carolo Antonio a Puteo Pauperum benefactori (Dem berühmtesten Herrn und Reiter Carlo Antonio dal Pozzo, dem Wohltäter der Armen)
2. Fassung (1. Fassung, unten rechts: Franciscus Collignon; hier ausgekratzt und überschrieben, Spuren noch leicht sichtbar)

 

Die Radierung Pietro Testas zeigt einen Mann, der Almosen an eine sich um ihn drängende Gruppe Armer verteilt. Als Sinnbild für Barmherzigkeit steht das Motiv in Zusammenhang mit der Widmung Testas an seinen Förderer Carlo Antonio dal Pozzo.

Die Linienführung scheint den Grad der Bewegtheit der Figuren anzuzeigen: In der linken und rechten Bildecken im Vordergrund befinden sich zwei am Boden sitzende Männer, die den Ausläufer der um Almosen bettelnden Gruppe bilden und deren körperliche Beeinträchtigungen sie offenkundig zum regungslosen Ausharren verdammen. Ihre Körper sind mit fester Kontur gezeichnet, die Schraffuren relativ dunkel. Die Gruppe derjenigen hingegen, die sich wild um den Spender drängen, um selbst mit ihren ausgestreckten, herumfuchtelnden Armen eine Gabe zu erheischen, kennzeichnet ein lockerer Strich, der die Körper in ihrer Bewegung einfängt. Die Konturlinien der Figuren scheinen förmlich auszufransen.

Die Darstellung von Bewegungen hat für Testa große Bedeutung, da Bewegungen als sichtbare Ausformung der unsichtbaren Bewegungen der Seele gelten und damit umgekehrt Affekten Ausdruck verleihen können. Dem Thema der affetti wollte Testa sogar einen eigenen Abschnitt in seinem geplanten, jedoch nie realisierten Traktat widmen, wie aus erhaltenen Notizen zur Gliederung hervorgeht (Cropper 1984, S. 244).

Die Radierung ist, wie alle Blätter Testas, eine eigene Bilderfindung des Künstlers, was dem aus Lucca stammenden Testa unter Zeitgenossen den Titel „Il Lucchesino, esquisito disegnatore“ (Cropper 1984, S. 15) einbrachte, auch Passeri betonte in seiner Vita Testas besonders die Fruchtbarkeit seines Geistes, „una stravagante chimera del suo cervello“ (Passeri 1772, S. 183).

Abb. Pietro Testa, Il Liceo della Pittura, Radierung, ca. 1638, 571x725 mm, Quelle: Cropper 1984, Abb. 89Der Begriff der Inventio ist für Testas Konzept des Philosophen-Malers zentral: Testas Stich „Il Liceo della Pittura“ zeigt die Aufnahme des idealen Künstlers in das Liceo, wo anhand unterschiedlicher Disziplinen die Vereinigung von Theorie und Praxis vorgeführt wird, die einzeln nicht bestehen können: Unten links im Bild, und damit außerhalb des Liceos, sieht man eine Personifikation der Theorie mit gebundenen Händen, unten rechts die blinde Praxis.

Um an die Pforte des Liceo zu gelangen, hat der Künstler einen Übungsweg abzuschreiten, den er nach Testa zeichnend absolviert: Die Ausbildung beginnt mit der Nachahmung der besten Meister, es folgt die Beobachtung der Prinzipien der Natur, um schließlich aus dem eigenen Geist heraus schaffen zu können (Cropper 1988, S. 78).

Mit der von Testa postulierten Einheit von Theorie und Praxis geht die Einsicht einher, dass Hand und Geist gleichermaßen trainiert werden müssen und die Linien bereits im Kopf entstehen, bevor sie das Papier berühren, wie es bei Bellori über Testas Lehrer Domenichino heißt:

„Soleva avvertire che non era linea degna di pittore quella che avanti della mano non era prima mossa dall’ ingegno, […]“ (Bellori 1976, S. 359)

[Er pflegte darauf hinzuweisen, dass eine Linie eines Malers nicht würdig sei, die vor der Hand nicht zuerst im Geist gezogen worden sei; Übers. d. Verf.]

Auch die Affekte sind ein Bestandteil der Invention selbst und nicht nur der Disposition, da auch sie im Idealfall ein Teil des unerschöpflichen Gedächtnisschatzes des Künstlers sind, aus dem heraus der reife Künstler zeichnet. Damit kann er die flüchtigen Bewegungen der Seele und ihre Auswirkungen auf den Körper darstellen, ohne dabei auf die Pose eines Modells angewiesen zu sein (Cropper 1984, S. 15).

Aus der Linienführung des Blattes könnte man darauf schließen, dass Testa das Dargestellte während des Entstehungsprozesses selbst nachzufühlen sucht: Die flüchtige Linie korreliert mit der schnellen Bewegung der Figuren, so dass der Affekt den Künstler selbst zu ergreifen scheint. Von Testas Lehrer Dominichino überliefert Bellori zumindest, dass man ihn oft habe Schmerzensschreie oder aber Freudenjauchzer ausstoßen hören, je nachdem welche Leidenschaft er im Begriff gewesen sei darzustellen (Bellori 1976, S. 359). Damit folgt Dominichino seinem eigenen Diktum, Emotionen nicht nur darzustellen, sondern sie nachzuempfinden,

 „non solo contemplare e riconoscere gli affetti, ma sentirli ancora in se stesso, fare e patire le medesime cose che si rappresentano“ (ebd.).

[die Affekte nicht nur zu betrachten und zu erkennen, sondern sie sogar in sich selbst zu fühlen, ein und dieselben Dinge zu tun und zu erleiden, die man darstellt; Übers. d. Verf.].

Léa Kuhn

Literatur:

  • Bellori, Giovan Pietro: Le vite de' pittori, scultori e architetti moderni (1672), hg. v. Evelina Borea, Einführung v. Giovanni Previtali, Turin 1976.
  • Cropper, Elisabeth: The Ideal of Painting. Pietro Testa’s Düsseldorf Notebook, Princeton 1984.
  • Cropper, Elisabeth (Hg.): Kat. Ausst. Pietro Testa, 1612 – 1650. Prints and drawings, Philadelphia Museum of Art 1988, Philadelphia 1988.
  • Passeri, Giambattista: Vite de' pittori, scultori ed architetti che anno lavorato in Roma, morti dal 1641 fino al 1673, Rom 1772.

Standort/Bildrecht: Institut für Kunstgeschichte der LMU, München

Abb. Pietro Testa, Il Liceo della Pittura, Radierung, ca. 1638, 571x725 mm, Quelle: Cropper 1984, Abb. 89