Institut für Kunstgeschichte
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III. Tracing lines. Linie als Gestus und Künstlerhandschrift (Ganzer Text)

Nach einer Anekdote von Plinius dem Älteren hinterlässt Apelles im Haus des Protogenes in dessen Abwesenheit eine einzige Linie auf einer weißen Leinwand, an der Protogenes seinen Künstlerfreund nach seiner Rückkehr wiedererkennt. Die einzelne Linie als Ausdruck des Künstlers begründet den Topos der Künstlerhandschrift.

Die Linie wird als Aufzeichnung einer Geste oder als indexikalische Spur gewertet und kann damit sowohl auf ihren Urheber verweisen als auch ihre Gemachtheit ausstellen. Mit Protogenes ist die Position des Interpreten benannt, der die Linie im Nachhinein als Ausdruck deutet und sie einem Autor zuschreibt. Die Linie steht somit zwischen Künstler und Interpret.

Obwohl Linien einerseits als Künstlerausdruck gelten können, sind sie zugleich meist raumstiftend und daher Beschreibungen von Welt. Mit David Rosand lässt sich von einer semiotischen Ambivalenz der Linie sprechen. Es ist der Betrachter, der Linien entweder stärker dem Pol der künstlerischen Geste oder dem Pol der illusionsschaffenden Raumlinie zuschreibt.

In dieser Sektion der Ausstellung soll die historisch divergierende Auffassung von Künstlerhandschrift untersucht werden. Selbst zu ein und derselben Zeit teilen Kunsttheorie und Praxis nicht unbedingt eine einheitliche Begriffsauffassung. Dabei wird auch das für den Schaffensprozess konstitutive Verhältnis von Geist und Hand zueinander unterschiedlich vorgestellt.

Dürer etwa vermerkte auf einem Stich Raffaels, dass er diesen von Raffael erhalten habe, anstatt dessen Hand zu sehen. Während bei Dürer die Hand mit der Person Raffaels synonym gesetzt wird, erfüllt für Vasari die Hand eher die Funktion eines Instrumentes, das im besten Falle die Bildidee umsetzt.

Um 1800 findet sich bei Roger de Piles die Auffassung eines Künstler-Selbstausdrucks als „caractère“, der sich als Stempel der geistigen Konstitution des Künstlers direkt in dessen Werk abdrückt. Die Vorstellung einer reibungslosen Verknüpfung von Hand und Geist gipfelt in der „écriture automatique“ der Surrealisten, die unter Ausschaltung des Bewusstseins einen unmittelbaren Zugriff auf das Unterbewusste herzustellen versuchten und damit die direkte Übersetzung des Somatischen und Seelischen in die Linie behaupteten.

Léa Kuhn und Susanne Thürigen

Literatur:

David Rosand: Drawing Acts. Studies in graphic expression and representation, Cambridge 2002.